Einem geflügelten Wort zufolge sollte man im Mai aussteigen: «Sell in May and go away». Doch bei den meisten Anlegern wie unsereins, die zum Aufstocken, als die Kurse im Keller waren, nicht mutig genug waren, kommen jetzt sozusagen wie die Weissen Wanderer in Game of Thrones unter der eiskalten Bärenmarktstimmung die Ängste hervor, dass wir etwas verpassen könnten. Unterstützung erfahren die Märkte und die Wertpapierkurse einmal mehr durch das positive Umfeld. Hinzu kamen in Bezug auf die Zinspolitik wenig restriktive Ansagen der Zentralbanken und gute Wachstumsaussichten – belegt durch solide Zahlen zur Schaffung von Arbeitsplätzen in den USA und Anzeichen einer Verbesserung der Wirtschaftsindikatoren in China. Ein weiterer Faktor ist die Tatsache, dass es nach dem verhaltenen Lohnwachstum in den USA und den niedriger als erwartet ausgefallenen Zahlen zur Inflation der Verbraucherpreise in Australien noch immer keine Anzeichen von Inflationsdruck gibt. Wir erkennen zwar an, dass dieses Szenario nicht ewig Bestand haben wird. Sein Ende zögert sich aber wahrscheinlich um einige Wochen oder Monate hinaus.
Es wäre wohl legitim, der Masse zu folgen, unser Risiko zu erhöhen und bei Aktien aufzustocken, denn das Umfeld könnte günstiger nicht sein. Allerdings könnte sich herausstellen, dass es viel klüger wäre, dieser Versuchung zu widerstehen. Insgesamt sind die Bewertungen nicht mehr attraktiv genug und das Aufwärtspotenzial ist jetzt anscheinend ziemlich gering. Die Kurse von US-Aktien haben ihre Verluste vom Ende des vergangenen Jahres wettgemacht und neue Höchststände erreicht. Wegen der reichlich vorhandenen Angst davor, dass man etwas verpasst, sinkt auch das Vertrauen in die Fähigkeit des Marktes, weitere Zuwächse zu verzeichnen. Mit anderen Worten, je mehr Weisse Wanderer auf dem Eis sind, weil es ja ach so fest ist, desto mehr Risse werden nach und nach auftreten. Und wagen sie sich hinaus, werden sie natürlich auch zu einer leichteren Beute für wilde, Feuer speiende Drachen – in diesem Fall für die Rache des Bärenmarktes. Deshalb haben wir uns entschieden, unsere Aktien-Allokation auf zyklische Werte auszurichten und uns von defensiven Werten abzuwenden, anstatt bei Aktien erheblich aufzustocken. Das grösste mit dem vorsichtigen Verharren an Ort und Stelle verbundene Risiko besteht darin, dass wir einen wichtigen Aufwärtstrend verpassen, falls es an den Aktienmärkten zu einer Blasenbildung kommt.
Wir müssen deshalb zugeben, dass vor ein paar Monaten mehr Mut unsererseits angebracht gewesen wäre. Aber es ist halt nicht immer leicht oder naheliegend, sich wie ein Ritter in glänzendem Harnisch zu verhalten. Wie dem auch sei, nicht immer überleben die Mutigsten auch am längsten – das gilt für Game of Thrones ebenso wie an den Finanzmärkten.
_Fabrizio Quirighetti